„An den Aktienmärkten droht eine Korrektur.“
Zu viel Optimismus, zu hohe Erwartungen, zu schneller Kursanstieg – so kommentiert ein Drittel des Lerbacher Kompetenzkreises die Lage an den Aktienmärkten. Im Lauf der kommenden sechs Monate erwarten die Experten deutliche Rückschläge.
„Natürlich bleibt die Aktie für mich die favorisierte Anlageklasse. Denn die Hauptargumente – dauerhaft niedrige Zinsen und starke monetäre Unterstützung durch die Notenbanken – verschwinden ja nicht“, macht Stephan Jäggle, MSR Family Office, klar: „Aber die Kurse sind einfach zu schnell zu weit gelaufen. Ich gehe deshalb zunächst von einer Konsolidierung aus.“
Für ein Drittel des Lerbacher Kompetenzkreises ist das Aktien-Glas derzeit halb leer. Auch diese Experten erwarten allerdings keine generelle Trendwende – sondern nur eine kurzfristige Korrektur. „An Sachwerten, insbesondere Aktien, führt einfach kein Weg vorbei. Allein schon aufgrund der negativen Realrenditen bei den meisten Anleihen bleiben Aktien alternativlos. Eine strategische Position in Qualitätswerten würde ich immer beibehalten wollen“, verdeutlicht Ulrich Voss, Tresono Family Office. „Die Frage ist einfach, wie ich mich heute in einem Gesamtportfolio positioniere. Wir waren voll investiert und haben nun bei 20 Prozent der Positionen Gewinne mitgenommen. Das ist Feinjustierung. Angesichts der vielen Warnsignale ist es vernünftig, den Fuß etwas vom Gas zu nehmen“, konkretisiert Michael Winkler, St. Galler Kantonalbank.
Ein Risiko, das zurzeit völlig ausgeblendet werde, sei zum Beispiel das Auftauchen einer Escape-Mutation des Coronavirus, die von den Impfstoffen nicht bekämpft werden könne. „Müssten dann neuerliche Lockdowns verhängt werden, wäre dies eine Katastrophe. Die Wahrscheinlichkeit ist vielleicht nicht hoch, völlig außer Acht darf dies aber nicht gelassen werden“, überlegt Thomas Buckard, Michael Pintarelli Finanzdienstleistungen.
Das Verhalten der Anleger spiegle solche Bedenken derzeit aber überhaupt nicht wider. „Im Gegenteil – der Optimismus ist extrem“, nickt Jäggle. „Ich nenne mal drei Aspekte“, zählt Ulrich Voss auf: „Allein in den letzten fünf Monaten sind 576 Milliarden Dollar in Aktienfonds geflossen. Zum Vergleich: In den letzten zwölf Jahren zusammen waren es nur 452 Milliarden. In den USA haben die Haushalte nun mehr als 43 Prozent ihres Vermögens in Aktien investiert. Dies ist nur wenig vom Höchstwert entfernt, der mit 44,6 Prozent um die Jahrtausendwende erzielt wurde. Und für mehr als 822 Milliarden Dollar wurden zuletzt in den USA Wertpapiere auf Kredit gekauft. Dies einspricht einem Anstieg von 71 Prozent in den letzten zwölf Monaten. Das Volumen hat so mit vier Prozent des US-Sozialprodukts auch ein Rekordniveau erreicht.“
Doch es gebe noch mehr Aspekte, die den Hauch von Spekulation in sich tragen. „Der Hype um die Kryptowährungen, der Boom bei Neuemissionen und SPACs – Börsenmänteln, die Geld einsammeln, um damit Firmen zu kaufen. Auch die Tatsache, dass laut einer Umfrage der Bank of America die Fondsmanager weltweit so stark in Aktien übergewichtet sind wie seit 20 Jahren nicht, gibt zu denken. Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier einfach ein zu großer Schluck aus der Pulle genommen wird. Das macht die Aktienmärkte anfällig“, ergänzt Winkler.
„Dazu kommt, dass die Sommermonate an den Aktienbörsen traditionell schwieriger sind. Die Dividendensaison ist vorbei, die Sommerflaute droht“, bringt Thomas Buckard ein weiteres Argument ins Spiel. „Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass die Anlageergebnisse im Zeitraum Mai bis September in der Vergangenheit unterdurchschnittlich ausgefallen sind“, nickt Bernd Meyer, Berenberg, und erklärt: „Am Jahresanfang trifft in der Regel Optimismus auf frisches Geld. Institutionelle Anleger wie Versicherungen oder Pensionskassen kaufen nun ebenso wie die aktiven Fondsmanager. Wenn sie nach den ersten Monaten eine positive Performance erzielt, vielleicht sogar das Anlageziel des Jahres schon erreicht haben, stellen sie ihr Portfolio im Sommer aber oft neutraler auf. Von dieser Seite fehlt den Märkten dann die Unterstützung.“
Noch wichtiger sei allerdings, dass die fundamentale Grundlage der jüngsten Hausse ebenfalls hinterfragt werden könne. „Die Grundprämisse lautet ja: Im Sommer beginnt ein enormer, weltweit synchroner Konjunkturboom, die Unternehmensgewinne steigen dann rasant. Und trotzdem bleiben die Zinsen extrem niedrig“, analysiert Axel Angermann, FERI Trust, und fährt fort: „Das muss aber nicht zwingend so kommen.“
Eine Schlüsselgröße in Angermanns Überlegungen ist die Inflation. „In den USA trifft ein enormer Nachfrageschub auf begrenzte Kapazitäten. Das treibt die Preise nach oben. Die Kerninflationsrate wird in den kommenden Monaten über drei Prozent gehen. Und dann wird es spannend: Beruhigt sich die Situation wieder oder verfestigt sich die Preissteigerungsrate?“
Die Antwort darauf habe Auswirkungen auf den Anleihemarkt und die Geldpolitik. „Negative Realzinsen passen eigentlich nicht zu einer Zeit starken Wachstums. Perspektivisch werden deshalb die Renditen für Anleihen mit zehn Jahren Restlaufzeit in den USA in Richtung der Inflationsrate steigen“, vermutet Meyer. Die These vom ewig niedrigen Zins, der höhere Bewertungen am Aktienmarkt rechtfertigt, könnte dann angezweifelt werden. „Solange der Renditeanstieg langsam geht und die Erträge gleichzeitig weitersteigen, könnte der Markt das verkraften. Geht es schnell, bekommen wir ein Problem“, meint Meyer.
Spannend werde dann auch, wie die US-Notenbank reagiere. „Wird sie wirklich, was viele erwarten, noch stärker in den Markt eingreifen, um den Renditeanstieg zu bremsen?“, fragt Angermann. „Auf jeden Fall wird spätestens ab Herbst massiv darüber diskutiert werden, wann und wie die Notenbanken ihre Anleihekaufprogramme zurückfahren werden“, ist Bernd Meyer überzeugt.
Dass dies Aktienanleger in der Regel nicht kalt lässt, zeige das Beispiel China. „Als die Bank of China im Februar den Fuß etwas vom Gas nahm, korrigierte der Aktienmarkt um 15 Prozent. Warum soll das nicht auch in den USA und in Europa passieren?“, fragt Michael Winkler.
Selbst die Sache mit dem Konjunkturboom sei noch längst nicht ausgemacht. „In den Schwellenländern ist der Impffortschritt gering. Diese Volkswirtschaften sind anfällig für neue Infektionswellen. Und dann ist da ja auch noch das Thema Zweitrundeneffekte“, skizziert Angermann. Während der Krise hätten Banken Kredite prolongiert, weil nicht klar war, ob ein Problem des Kreditnehmers der Krise oder seinem Geschäftsmodell geschuldet war. „In dem Moment, wo es aufwärts geht, wird dies aber deutlich. Dann machen Banken in der Regel relativ schnell Schluss. Ich bin deshalb gespannt, wie viele der drei Millionen Kurzarbeiter in Deutschland noch arbeitslos werden.“
Angesichts dieser vielen Unsicherheiten seien die Erwartungen an die Firmenerträge, die sich in den Aktienbewertungen spiegeln, sehr ambitioniert. Der Konsens aller Analysten weltweit – so die Zahlen von Fact-Set – geht davon aus, dass die Gewinne 2022 je nach Index um 20 bis 50 Prozent über dem Vorkrisenniveau von 2019 liegen werden. „Sollte die Wachstumsdynamik nicht so stark ausfallen wie erhofft oder die höheren Preise für Vorprodukte nicht auf Verbraucher übergewälzt werden können, wird das schwer zu erreichen sein“, meint Angermann. „Und es müsste ja noch besser kommen, um einen positiven Effekt auf den Markt zu haben“, wirft Buckard ein.
Eine Korrektur um zehn bis 15 Prozent in den kommenden sechs Monaten würde die Experten deshalb nicht überraschen. „Sie wäre sogar typisch für den Verlauf eines klassischen Börsenzyklus“, ergänzt Michael Winkler.
In der Regel beginnt der Aufschwung nach einer Rezession tatsächlich mit einer Liquiditätsrally, weil die Notenbanken Geld ins System pumpen. Darauf folgt dann eine Zeit der Unsicherheit, wenn die Liquiditätshausse in die Ertragshausse übergeht und Hoffnungen mit harten Fakten hinterlegt werden müssen. „Dieser Übergang wird meist holprig“, sagt Winkler und verweist auf Parallelen zum Kursverlauf nach der Finanzkrise. „Von März 2009 bis Frühjahr 2010 sind die Notierungen auch um rund 75 Prozent gestiegen. Danach konsolidierte der Markt drei bis sechs Monate und korrigierte um rund zehn Prozent.“
Damals nahmen die Aktienbörsen im Herbst 2010 den ursprünglichen Anstiegspfad wieder auf. „Das könnte diesmal ähnlich sein“, schließen Meyer und Winkler, „nach einer Korrektur wären unser Glas wieder ganz voll.“ ®
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// Ganz leer.
„Entscheidend für den Anlageerfolg ist es heute, Fehler zu vermeiden“, macht Ulrich Voss, Tresono, klar. Wichtig sei nicht nur, was ins Depot komme – sondern auch, was draußen bleibe. Besonders hohe Risiken sehen die Experten derzeit in den Bereichen Elektrofahrmobilität, Wasserstoff und erneuerbare Energien. Ein wichtiges Warnsignal sei das Verhältnis zwischen Kurs und Umsatz. „Von Aktien, die über Faktor zehn liegen und keinen Gewinn machen, halte ich mich fern“, sagt Voss.
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