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Wilhelm Karmann gilt als der Vater des Cabriolets. Sein erfolgreiches Familienunternehmen produzierte im vergangenen Jahrhundert rund drei Millionen Karosserien – meist offene und meist für andere große Autobauer. Doch am Ende funktioniert das Leben in der Nische nicht.
Am schönsten sieht die Welt für denjenigen aus, der ohne Dach durch sie flitzt, findet Wilhelm Karmann. Es ist das Jahr 1901, und der 30-jährige Krefelder hat gerade eine der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens getroffen. Die Tinte auf dem Vertrag mit Minna Klages ist noch feucht: Seit diesem 1. August 1901 ist Karmann neuer Besitzer des größten Osnabrücker Kutschenbauerbetriebs Christian Klages mitsamt 15 Mitarbeitern und zwei Häusern am Kamp 30/31. Der Betrieb ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Seit 1874 wird dort alles, was Räder hat, gebaut oder repariert. Und auch Karmann ist kein Unbekannter der Branche. Der gelernte Stellmacher hat ein Faible für alles, was möglichst geschmeidig und schnell über die Straßen rollt.
Der umtriebige Geschäftsmann zeichnet seit seiner Kindheit offene Autos. Doch zu einer Zeit, in der Kutschen die unebenen Straßen befahren, ist der Gedanke an ein motorisiertes Fahrzeug mit faltbarem Dach fast unverschämt fortschrittlich. Außerdem gelten Faltkonstruktionen, die nicht nur Sicherheit bieten, sondern auch wasserdicht und warm sind, als Spinnerei. Noch. Karmann entwirft und tüftelt abends. Tagsüber fertigt er neben Kutschen erste Karosserien für Dürkopp, Opel und Minerva. 1913 ist es schließlich so weit, er meldet sein Patent für ein faltbares, regendichtes Autodach in Berlin an und gilt damit als Vater der Cabrioletdächer.
Am 24. November 1908 heiratet er seine Mathilde. Der heiß ersehnte Sohn Wilhelm jun. wird am 4. Dezember 1914 geboren. Karmanns Kunden, Hansa, Hansa-Lloyd und Mannesmann, sind zwar namhaft, doch der große Knüller fehlt ihm noch. 1921 kommt der erste Großauftrag: Die Aktiengesellschaft für Automobilbau Berlin (AGA) bestellt 1000 Karosserien. Ab jetzt gehört Karmann zu den Branchenriesen, und sein Steckenpferd, das faltbare Cabrioletdach, wird zum Liebling der High Society. 1932 bauen 150 Mitarbeiter pro Tag 16 Adler-Primus-Cabriolets, 1939 sind es bereits 800 Mitarbeiter, die täglich 65 Karosserien fertigen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bringen nennenswerte Aufträge von Ford und VW den Zulieferer wieder auf die Beine. 1949 gelingt Wilhelm Karmann dann sein größter Coup: Der 78-Jährige produziert auf eigene Kosten ein viersitziges Käfer-Cabrio und führt den Prototyp in Wolfsburg vor. Der Serienauftrag geht noch am selben Tag ein. Bis 1988 werden 331 487 dieser Autos vom Band laufen. Seniorchef Karmann bleibt bis zu seinem Tod 1952 an der Spitze der Firma. Zu diesem Zeitpunkt hat sie 1452 Angestellte und macht einen Umsatz von 15 Millionen Dollar.
Sein Sohn, Wilhelm jun., hat bald danach eine weitere zündende Idee. Er will den erfolgreichen Käfermotor in eine fesche, sportliche Karosserie stecken. Bei Volkswagen ist man skeptisch, Sportwagen brauchen doch mehr als 30 PS und sollten schneller sein als 115 Stundenkilometer. Karmann spricht mit Luigi Segre, seinem italienischen Freund und Chefstylisten bei Carrozzeria Ghia. Das Ergebnis, der VW Karmann-Ghia, wird bis heute als Ikone des vergangenen Jahrhunderts gefeiert und holt die Firma Karmann endgültig ins Scheinwerferlicht. Fast 400 000 der mit 7500 Mark verhältnismäßig teuren VW Karmann-Ghia werden bis 1974 produziert.
Heute sind die „Hausfrauen-Porsches“ oder „Sekretärinnen- Ferraris“ Sammlerobjekte. „Wenn wir mehr Facharbeiter hätten, könnten wir noch mehr Autos bauen und würden sie auch verkaufen“, frohlockt Karmann Ende der 1950er-Jahre. Die Zeiten sind gut, er expandiert mit Werken in Brasilien und Portugal, baut für BMW, Daimler und auch Audi.
Doch die Geschichte des Familienunternehmens endet tragisch. Nach dem Tod von Wilhelm 1998 können sich seine drei Kinder nicht einigen. Angesichts neuer flexibler Produktionssysteme bei den großen Autobauern wird das Geschäft für einen Zulieferer auch immer schwieriger. Als dann Zweifel an der Solvenz der Firma auftauchen und Aufträge wegbrechen, ist Karmann 2009 am Ende. Die Firma Webasto übernimmt die Dachsparte, VW für fast 40 Millionen Euro die Autoproduktion. Was bleibt? Bis heute wird das Cabriomodell des VW Golf in der Karmannstraße produziert. ®
Text: Jennifer Bligh