Das Endspiel.
Geldpolitik. Nullzins, Anleihekäufe, Minuszins – die Europäische Zentralbank greift zu immer ungewöhnlicheren Mitteln. Welche Logik steckt dahinter? Und was bedeutet das langfristig für den Euro? Professor Thorsten Polleit, Chefvolkswirt der Degussa Goldhandel, präsentiert der Lerbacher Runde seine Vision davon, wie das Euro-Experiment langfristig ausgehen könnte.
In der vergangenen Ausgabe von private wealth hatte Albert Edwards, Global Strategy Analyst bei Société Générale in London, das Undenkbare gedacht. Rezession, wirtschaftliche Eiszeit. Und darauf folgend: expansive Maßnahmen der Notenbanken, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. „Wir haben in den letzten zehn Jahren Dinge gesehen, die ich vorher als extrem unwahrscheinlich eingeschätzt hätte. Nichts ist mehr unmöglich.“
Kurz darauf senkte EZB-Chef Mario Draghi den Leitzins auf null und den Einlagensatz, den Banken bekommen, wenn sie Geld bei der Notenbank hinterlegen, auf minus 0,4 Prozent. Wer Geld verleiht, muss für dieses Privileg bezahlen. Wie ist diese Entwicklung langfristig einzuordnen? Und: Was wird aus unserer Währung, dem Euro?
„Um eine Idee zu entwickeln, wie das Experiment mit dem Euro ausgehen wird“, erläutert Thorsten Polleit der Lerbacher Runde, „muss ich in der Geschichte des Geldes etwas ausholen. Vor 200 Jahren noch war das Gold eine Art Weltgeld, freiwillig gewähltes Geld. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, avancierte der US-Dollar zur Weltwährung, die durch Gold gedeckt war. Alle anderen Währungen sollten sich an den Dollar und damit indirekt auch an das Gold binden. Diese Ordnung kennen wir als das System von Bretton Woods.“
Bretton Woods funktionierte so lange halbwegs gut, bis Amerika den Korea- und den Vietnamkrieg durch die Ausgabe neuer Dollarnoten finanzieren wollte. Jetzt waren mehr Dollar im Umlauf, als Gold zur Deckung da war. Einige Nationen erkannten das, brachten ihre Dollarnoten nach Amerika und verlangten die Herausgabe von physischem Gold. Die Goldreserven der Amerikaner schmolzen dahin. Am 15. August 1971 verkündete US-Präsident Nixon, dass von nun an der US-Dollar nicht mehr in Gold einlösbar sei.
„Das war der größte monetäre Enteignungsakt der Neuzeit“, meint Polleit: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen in die Oper und geben Ihren Ledermantel an der Garderobe ab. Dafür bekommen Sie einen Papierschnipsel. Nach dem Operngenuss erwarten Sie, dass Ihnen Ihr Mantel wieder ausgehändigt wird. Doch Herr Nixon an der Garderobe lächelt nur und sagt: ,Es gibt den Ledermantel nicht mehr – aber Sie dürfen den Papierschnipsel behalten.‘ Auf diese Weise entstand weltweit unser ungedecktes Papiergeldsystem.“
Heute wird überall mit sogenanntem Fiat-Geld bezahlt, abgeleitet vom Lateinischen fiat – so sei es. Alle großen Währungen sind nicht einlösbares, staatlich emittiertes Papiergeld und können in beliebiger Menge produziert werden.
„Dieses Fiat-Geld“, erklärt Polleit, „hat weitreichende Folgen. Erstens ist es inflationär. Die Preise steigen chronisch an. Pro Geldeinheit erhalten die Menschen immer weniger Güter. Sie trösten sich aber darüber hinweg, weil sie auch immer mehr Geld zur Verfügung haben. Das ändert aber nichts daran, dass per saldo die Kaufkraft des Geldes immer mehr abnimmt.
Das Fiat-Geld führt zweitens dazu, dass sich einige auf Kosten anderer bereichern. Nehmen wir an, ich bin der Geldemittent. Wenn ich Ihnen eine neue Banknote überreiche, können Sie mit diesem neuen Geld Güter kaufen – Aktien, Luxusautos. Und zwar zu unveränderten Preisen. Danach wird das Geld weitergereicht. In diesem Prozess steigen Güternachfrage und die Preise. Wenn der Letzte in der Kette das neue Geld erhält, sind die Preise schon gestiegen. Der Erste wurde relativ reicher. Er hat für das neue Geld mehr Güter bekommen. Der Letzte wurde relativ ärmer. Das ist der sogenannte Cantillon-Effekt.
Drittens kommt es häufiger zu Konjunkturzyklen. Wird neues Geld in Umlauf gebracht, drückt dies den Zins. Dann werden Menschen verlockt, Investitionen zu tätigen, die sich vorher nicht gerechnet hatten. Ein Aufschwung stellt sich ein. Doch früher oder später entpuppt er sich als kurzfristiger Schein, als Einmaleffekt. Dann wird aus dem Boom ein Bust.
Eine vierte Begleiterscheinung des Fiat-Geldes ist die zwingend steigende Verschuldung. Es müssen ja Kredite ausgegeben werden, um die Geldmenge zu erhöhen. Neues Geld entsteht eben nur durch die Kreditvergabe der Banken. Im Fiat-Geld-System wachsen die Kredite deshalb schneller als das Sozialprodukt der Volkswirtschaften. Die Schuldenlasten in Prozent zu den Sozialprodukten nehmen also immer stärker zu.
Und fünftens wird der Staat größer und drängt die Privatwirtschaft zurück. Er könnte dieses ,Wachstum‘ natürlich über Steuern finanzieren. Aber noch einfacher und mit weniger politischem Widerstand geht es, wenn er Zugriff auf die Geldproduktion hat. Dann druckt er sich einfach neue Noten.“
Lange Zeit, so Polleit, habe es gegen derart unseriöse Politik ein natürliches Korrektiv gegeben. Wenn ein Staat zu heftig inflationierte, konnten Vermögende und Banken auf eine andere Währung zurückgreifen. Sie verwendeten einfach das schlechte Geld nicht mehr: „Solange es den Währungswettbewerb gibt, ist die Möglichkeit der Inflationierung beschränkt. Also drängten die Staaten danach, diesen Wettbewerb zwischen Währungen herabzusetzen.“
„In Europa war lange die Mark die stabilste Währung“, erklärt Polleit: „Als Preis für die Wiedervereinigung 1989 wurde dann gefordert, die vielen Währungen Europas auf eine Währung zu übertragen – den Euro. Damit ist der Währungswettbewerb in Europa ausgeschaltet worden.“
Mittlerweile ziehe dies noch weitere Kreise. „Es gibt etwas, über das kaum einer spricht. Das ist das internationale Liquiditäts-Swap-Abkommen. Vereinfacht gesprochen handelt es sich dabei um eine unlimitierte Geld- und Kreditschöpfung zwischen den großen Zentralbanken der Welt. Benötigt zum Beispiel die EZB Dollar-Guthaben, um vielleicht europäische Banken zu stützen, die bei der Refinanzierung von Dollar-Schulden Probleme haben, ist die US-Notenbank FED seit 2013 verpflichtet, diese Guthaben unlimitiert bereitzustellen. Und umgekehrt. In diesem System sind die Schweizer dabei, auch die Chinesen. Alle. Die Notenbanken schöpfen Geld aus dem Nichts mit Geld aus dem Nichts.“
De facto, so der Professor, sei so das letzte Kreditausfallrisiko im Welt-Finanzsystem beseitigt: „Immer wenn es eng wird, springt die Notenbank ein. Und glauben Sie mir: Zentralbanken werden immer all das machen, was erforderlich ist, um die Zahlungsfähigkeit des Bankensystems und der Staaten zu sichern.“ Die Zinsen würden eben allein deshalb unter null gedrückt, um die großen staatlichen Schuldner zu entlasten.
Diese Politik ist gar nicht so einzigartig. Von 1942 bis 1955 wurde die Rendite der zehnjährigen US-Staatsanleiherendite schon einmal durch Marktinterventionen bei 2,5 Prozent fixiert. Die Inflation stieg an und war zeitweise höher als diese Nominalverzinsung. Das bedeutet nichts anderes als die reale Entschuldung des Staates. Und empfindliche Vermögensverluste für diejenigen, die diese Bonds gehalten haben.
„Genau dasselbe erleben wir heute mit der Politik Quantitative Easing“, erklärt Polleit, „die Notenbanken versuchen, eine negative reale Verzinsung auf die ausstehenden Schulden herzustellen. Wenn das nicht funktioniert – und es sieht ja derzeit nicht danach aus –, könnte die nächste Stufe der kreativen Maßnahmen das sogenannte Helikoptergeld sein. Vereinfacht gesprochen, bringt die Zentralbank dabei neues Geld nicht indirekt durch den Kreditvergabeprozess der Banken in Umlauf. Stattdessen verschenkt sie das neue Geld direkt.“
Die damit verbundene Erwartung sei einfach: „Sie sehen, dass Ihr Nachbar das Geld aufsammelt und schnell zum nächsten Ferrari-Händler läuft, um einen neuen Ferrari zu erwerben. Und Sie denken, oh je, bevor die Preise steigen, muss ich auch noch einen Ferrari kaufen. Auf diese Weise treibt die Ausgabe von Helikoptergeld die Preise tatsächlich in die Höhe.“
Ist das wirklich denkbar? „Ja, ich glaube, das kommt. Und zwar aus folgendem Grund: In einem Fiat-Geldsystem wachsen ja die Schulden immer weiter an. Die Einkommen klettern auch – aber nicht ganz so stark. Deshalb ist die Schuldenquote im Zeitablauf ja auch gestiegen. Dieses Problem kann Helikoptergeld lösen. Nun ist ja keine weitere Verschuldung nötig, um einen Anstieg der Geldmenge zu bewerkstelligen. Die nominalen Einkommen und das nominale Bruttoinlandsprodukt steigen an. Und irgendwann die Preise. Nur die Schulden bleiben gleich. Die Schuldenlast geht damit zurück. Das ist natürlich politisch verführerisch.“
Was wird dann aus unserer Währung, dem Euro? „Ich glaube, es gibt eine Debasierung“, meint Thorsten Polleit: „Es wird einfach immer weiter neues Geld gedruckt. Und die Kaufkraft des Geldes schwindet.“
// Die Lerbacher Runde hakt nach.
Lerbacher Runde Was bedeutet das für uns als Investoren?
Professor Thorsten Polleit Sie müssen Vermögenswerte besitzen, die im Umfeld steigender Preise eine positive reale Rendite erwirtschaften. Es reicht nicht, die Inflationsrate auszugleichen. Mit Anleihen funktioniert das nicht. Und die Immobilienpreise sind relativ zu den schwer zu erhöhenden Mieten – Stichwort Mietpreisbremse – auch schon zu hoch. Die einzige Lösung ist der Aktienmarkt. Unternehmen haben die besten Chancen, Preissteigerungen zu überwälzen. Investoren sollten deshalb Anlagen in Produktivkapital – Aktien, Direktbeteiligungen an Unternehmen, Private Equity oder Venture Capital – die erste Priorität einräumen.
LR Würde Helikoptergeld nicht das Vertrauen der Menschen in das Geld massiv untergraben?
TP Das ist tatsächlich kritisch. Was denken die Leute, wenn sie in der Zeitung lesen: Die EZB verschenkt Geld? Werden sie schockiert sein? Oder jubeln? Helikoptergeld gab es schon einmal – in der Französischen Revolution. Die Kassen der Revolutionsregierung waren leer, das Volk unzufrieden. Deshalb wurde Geld gedruckt und in Form sogenannter Assignaten ausgegeben – nicht einmal, sondern mehrmals, in immer größeren Mengen. Es wirkte wie eine Droge. Und endete natürlich in einer Hyperinflation. Aber Gott sei Dank sind wir heute viel klüger. Wir werden es nicht so weit kommen lassen, oder?
LR Die Zentralbank wird ja nicht wirklich mit dem Helikopter Geld abwerfen. Wie könnte dieser Prozess konkret ablaufen?
TP Wir könnten ja mit einem geringen Grundeinkommen für jeden anfangen. Und dies über Schulden bei der Notenbank finanzieren. Wir probieren das einfach einmal aus. Mit kleinen Summen. So wie es die EZB mit ihrem Anleihekaufprogramm im Jahr 2010 gemacht hat. Sie begann zunächst klein und es gab einen großen Aufschrei, das dürfe sie nicht. Dann haben wir uns daran gewöhnt. Heute wird im großen Stil gekauft. Das alles ist eine Frage des Gradualismus. Die Strategie ist, die Dosis langsam zu steigern. Ob sich das dann wieder eindämmen lässt, ist eine ganz andere Frage. Ich glaube nicht.
LR Was kann eine unabhängige Notenbank dazu bringen, ihr Gut, das Geld, zu zerstören?
TP Ich stelle infrage, dass die Notenbanken wirklich unabhängig sind. Es besteht eine starke Interessenorientierung dahingehend, den Finanzsektor und die Staaten vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Das ist das wahre Ziel der Notenbankpolitik, nicht die Geldwertstabilität. Denken Sie nur zwei oder drei Jahre zurück. Wenn Ihnen damals jemand gesagt hätte, die Sparkassen denken über Negativzinsen für ihre Kunden nach und die zehnjährige Bundesanleihe rentiert bei null – trotz stabilem Wachstum in der Wirtschaft und einem sehr soliden Arbeitsmarkt. Ich bin sicher, die meisten von Ihnen hätten das als sehr, sehr unwahrscheinlich angesehen.
Jetzt reden wir über Helikoptergeld, schmunzeln darüber und glauben, dass es unmöglich sei. Aber die Politik wird alles tun, um die Zahlungsfähigkeit dieses Papiergeldsystems zu erhalten. Dies wird auf Kosten des Währungswerts gehen. Es muss nicht zu einer Zerstörung des Währungssystems kommen. Aber wir werden einen Verlust der Kaufkraft erleiden.
LR Können wir uns in anderen Währungen verstecken?
TP Natürlich gibt es noch Wettbewerb zwischen verschiedenen staatlichen Fiat-Geld-Anbietern. Sie können Schweizer Franken kaufen. Oder US-Dollar. Aber in der Tendenz beginnen die Zentralbanken, ihre Politik gleich auszurichten. Der Zins ist überall null, die Basisgeldmengen steigen, wir haben das beschriebene Liquiditätsswap-Abkommen. Die Möglichkeit, sich vor dem Wertverlust der einen Währung durch den Tausch in eine andere Währung zu schützen, schwindet. Es gibt heute sogar Überlegungen von namhaften Ökonomen, ein einheitliches Weltgeld zu etablieren. Die Ausschaltung des Währungswettbewerbs in Europa ist symptomatisch für das, was sich auf höherer Ebene ebenfalls zeigt. Wenn die Währungspolitik harmonisiert ist, können Sie nicht mehr ausweichen. ®