Sicher ist nur die Unsicherheit.

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008 Opinionleader Sicher ist nur die UnsicherheitFlüchtlingskrise, IS, Ukraine, Brexit – wir leben in einer Zeit der krisenhaften Zuspitzung in der Geopolitik. Markus Kaim, Stiftung Wissenschaft und Politik, erklärt, warum dies auch in Zukunft so bleiben wird.

Auch frühere Generationen haben nicht auf der Insel der Seligen gelebt. Und dennoch gibt es zwischen gestern und heute einen bemerkenswerten Unterschied. Die eingeführten Ordnungen, mit denen wir politisch sozialisiert wurden, sind brüchig geworden. Vor allem aber: Diese eingeführten Ordnungen sind (noch) nicht durch neue Ordnungssysteme abgelöst. Wir leben also in einer Art Zwischenzeit.

Vor zehn Jahren dachten wir alle noch, die unilaterale Weltordnung mit der unangefochtenen Führungsposition der USA würde von einem multipolaren System abgelöst. Um die USA, Russland, China und Europa würden sich alle anderen gruppieren. Heute ist klar: Wir sind auf dem Weg in eine nonpolare Ordnung, in der es keine dominierenden Mächte mehr gibt. Wenn aber niemand mehr für Ordnung sorgt, entsteht ein strategisches Vakuum, das andere Akteure füllen. Auf sieben Entwick­lungslinien sollten wir uns einstellen:

// 01. Rückzug der USA aus der globalen Führungsrolle.

Präsident Obama hat die Prioritäten der USA verändert. Es geht nun um „nation building at home“ – darum, die Nation wieder aufzubauen. Die US-Außenpolitik betont das, was die USA nicht mehr wollen – Krieg im Irak oder Afghanistan. Die verbleibende weltpolitische Kraft richtet sich vor allem nach Asien als Antwort auf den machtpolitischen Aufstieg Chinas. Damit geht ein geringeres Engagement in Europa und anderen Teilen der Welt einher. An diesem Bild wird sich auch nach den US-Präsidentschaftswahlen nichts ändern. Keiner der Kandidaten verfolgt eine international aktivistische Agenda. Im Gegenteil.

// 02. Auf dem Weg zu parallelen Ordnungsmodellen.

Die Euro-atlantische Sicherheitsordnung beruht auf dem Pariser Konsens. Alle europäischen Staaten und alle OSZE-Länder haben sich auf bestimmte Prinzipien des zwischenstaatlichen Verkehrs verpflichtet – territoriale Unversehrtheit, keine Gewaltanwendung, Schutz der Menschenrechte, Demokratie. Mit der russischen Annexion der Krim steht in Frage, ob diese Ordnung überhaupt noch gilt. Für uns ist dabei wichtig: Deutschland ist keine Militärmacht. Es kann nur im Rahmen einer funktionierenden internationalen Ordnung Einfluss nehmen. Je mehr diese Ordnung infrage gestellt wird, desto schwächer wird die Position Deutschlands.

// 03. Die Grenzen internationaler Organisationen.

Der Einfluss von NATO, EU oder den UN nimmt angesichts geänderter Prioritäten ihrer Mitglieder ab. Weil es aber trotzdem Krisen und Konflikte gibt, bilden sich informelle Formate. Beispiele sind die G5+1-Gruppe, in der die Vereinbarung über das Iran-Programm verhandelt wurde. Oder das „Viergestirn“ Deutschland, Frankreich, Ukraine und Russland, das die Ukraine-Krise zu lösen versuchte. Dies hat noch nicht absehbare Folgen für die eingeführten Organisationen der internationalen Sicherheitspolitik.

 // 04. Die Krise im europäischen Integrationsprozess.

Das europäische Narrativ, mit dem wir alle groß geworden sind – die EU als Frage von Krieg und Frieden –, überzeugt heute niemanden mehr. Es gab Versuche, an diese Stelle die Bedeutung und Rolle der EU in einer globalisierten Welt zu setzen. Doch das entfaltet noch keine Wirkung. Dagegen ist die Beharrungskraft des Nationalstaates größer als gedacht. Wir gingen davon aus, dass die weitere Vertiefung der europäischen Integration schließlich eine Art europäischer Identität schaffen würde. Dass am Ende des Tages deutsche oder französische Politik vom europäischen Demos abgelöst würde. Doch in der aktuellen krisenhaften Akkumulation suchen die Menschen ihr Heil beim Nationalstaat. Die Grundtendenz in Europa ist im Moment anti-integrationistisch und anti-globalistisch. Wenn Sie eine Wahl krachend verlieren wollen, plädieren Sie für eine Vertiefung der EU.

Wir sind heute von der politischen Union weiter entfernt denn je. Nicht alle EU-Länder sind in der Eurozone. Nicht alle nehmen an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik teil. Diese Tendenz wird sich beschleunigen und verstärken – mit oder ohne den Brexit.

Wir werden in Zukunft über ein ganz anderes europäisches Integrationsmodell sprechen. Der Minimalkonsens aller 28 EU-Mitgliedsstaaten wird in der Freihandelszone und der Freizügigkeit liegen. Je nach Politikfeld wird es diverse, unterschiedliche Klubs geben. Das Bestmögliche, was die EU erreichen kann, ist, ihren Entwicklungsstand zu erhalten. Und die Zukunft des Euro ist dann natürlich offen.

// 05. Das Auftauchen neuer, destabilisierender Konflikte.

Das Thema IS wird uns in den nächsten Jahren noch stärker beschäftigen als in der Vergangenheit. Der IS ist ein Hybrid. Er ist ein Quasi-Staat – mit Staatsgebiet, Staatsterritorium, Staatsregierung. Er nimmt quasi-staatliche Funktionen wahr, liefert Strom, erhebt Steuern. Er ist aber gleichzeitig auch eine Terrororganisation. Damit stellt der IS die seit 100 Jahren gültige Ordnung im Mittleren Osten infrage. Wir wissen nicht, in welcher Form Syrien oder der Irak bestehen bleiben werden. Und welche Folgen das für das gesamte geopolitische Gefüge im Mittleren und Nahen Osten haben wird. Wir wissen nur: Diese Probleme lassen sich nicht schnell lösen.

// 06. Die Renaissance der Nuklearwaffen.

Die atomaren Arsenale werden nicht mehr abgerüstet, sondern modernisiert. Es hat schon eine neue Qualität, mit welcher Gelassenheit die Vertreter der russischen Regierung zuletzt die Anwendung von Nuklearwaffen angedroht haben.

Eine Krise der Abrüstung droht vor allem aus zwei Regionen – aus dem Iran und aus Nordkorea. Das iranische Nuk­learprogramm ist nur für zehn bis 15 Jahre ausgesetzt. Das Abkommen setzt darauf, dass wir in dieser Zeit eine komplette Transformation der iranischen Gesellschaft erreicht haben. Danach, so die Idee, hätte der Iran selbst gar kein Inte­resse mehr an Nuklearwaffen. Was passiert, wenn diese Wette nicht aufgeht? Nordkorea ist völlig unkontrollierbar. Wie werden andere Akteure reagieren – Südkorea zum Beispiel? Donald Trump empfiehlt, Südkorea müsse sich selbst nuklear bewaffnen. Südkorea und auch Japan haben das auch immer wieder thematisiert. Im Golf gilt das für Saudi-Arabien und die Türkei. Im Fall Saudi-Arabiens würde dies den bilateralen Konflikt mit Iran verschärfen.

// 07. Herausforderung Migration.

Knapp 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Das ist die höchste Zahl seit 1945. Die weit überwiegende Zahl dieser Flüchtlinge wird allerdings Europa nie erreichen. Wir werden also nicht in einer Flut von Flüchtlingen ertrinken. Trotzdem bleibt diese Herausforderung auch nach der Schließung der Balkanroute bestehen. Es gibt keine Unikausalität für Migration. Und sie ist schwer zu beeinflussen. Wir sagen immer, dass Fluchtursachen dort bekämpft werden sollen, wo sie entstehen. Nur: Wenn dies politische Repression in Eritrea ist oder mangelnde ökonomische Perspektive in Nigeria – was soll die Bundesregierung dagegen tun? Der Migrationsdruck wird anhalten. Solange es unterschiedliche Asyl- und Verfahrensstandards sowie ein unterschiedliches Verständnis von Migration in der EU gibt, so lange ist Migration auch nur sehr schwer zu steuern.

// Fazit: Unsicherheit ist die neue Normalität.

Immer öfter werden gleichzeitige, unterschiedliche Krisen­typen parallel auftauchen. Das macht die Reaktionszeiten sehr kurz, weil Krisenprävention eigentlich fehlt. Meine Beobachtung ist, dass der Berliner Politikbetrieb immer nur eine Krise bearbeiten kann. Den syrischen Bürgerkrieg gibt es nun seit fünf Jahren. Hat er fünf Jahre lang die Politik umgetrieben? Die Antwort ist nein, weil ihn andere Krisen überlagerten – Euro, Schuldenkrise, Griechenlandkrise, Ukrainekrise. Kommt die nächste Krise, wird wieder eine aus der öffentlichen Aufmerksamkeit fallen. Aber weiter schwelen.

Die Globalisierung wird in vielen europäischen Ländern als Bedrohung wahrgenommen. Anti-integrationalistische Kräfte haben enormen Auftrieb. Sie sind auch die Kernelemente der populistischen politischen Strömungen. Als die Bundesregierung im Herbst 2015 nicht mehr den Eindruck vermitteln konnte, sie hätte die Flüchtlingsproblematik unter Kontrolle, rückten die Wähler ab. Ob sie diese zurückgewinnen kann, ist zweifelhaft. Teile der Bevölkerung eint schon länger die Unzufriedenheit mit dem Staat. Die Migrationsdebatte öffnete nur die Schleusen. Das wird protektionistische und isolationalistische Tendenzen nach sich ziehen.

Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir uns immer weniger auf traditionelle Ordnungsmächte verlassen können. Wer in den nächsten Jahren seriös Sicherheitspolitik plant, wird sich vor allem auf sich selbst verlassen müssen.

Ist das schlimm? Ich glaube, es ist so schlimm, wie wir es machen. Natürlich ist die Welt fürchterlich komplex. Entscheidend wird sein, ob es uns gelingt, die notwendigen Werkzeuge für den Umgang mit den Herausforderungen herzustellen. Wer gestalten will, muss sich den Problemen zuwenden, sie wahrnehmen und sich für sie interessieren. ®