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  • Dr. Ludger Weß

Stop!

(Geschätzte Lesezeit: 5 - 9 Minuten)

066 Biotec Soluventis 1 487689970Medizintechnik. Wie wäre es, wenn es einen Weg gäbe, Krankheitsprozesse direkt in den einzelnen Zellen zu stoppen und damit eventuell das Leiden zu beenden? Die Forscher des neu gegründeten Unternehmens Soluventis Nanotherapeutics aus Bochum haben da eine Idee.

Oft ist es ein Zufallsfund, der eine medizinische Revolution auslöst. Vor 90 Jahren bemerkte der englische Mikrobiologe Alexander Fleming, dass in der Nähe von Schimmelpilzkolonien in seinen Petrischalen keine Bakterien wuchsen. Er stutzte, forschte weiter und fand das Penizillin, das die Bakterien am Wachstum hinderte. Es begann die Ära der Antibiotika – ein Durchbruch der modernen Medizin.

Ein ähnlicher Zufallsfund irritierte den Bochumer Medizinprofessor Sören Schreiber, als er mit Blutersatzstoffen experimentierte. Daran arbeiten viele Mediziner – ihr Ziel ist es, bei Unfällen, Katastrophen oder zur Versorgung entnommener Organe in der Transplantationsmedizin ohne Blutkonserven auskommen zu können.

Schreiber untersuchte wie viele seiner Kollegen Perfluorcarbone. Diese Verbindungen sind chemisch sehr träge, können aber – ähnlich wie das Eisen in unseren roten Blutkörperchen – Sauerstoff physikalisch binden und transportieren. „Bei den Versuchen fiel mir auf, dass in den Perfluorcarbon-Mischungen regelmäßig andere Bestandteile auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Wir hatten sie selbst zugegeben, aber dennoch waren sie plötzlich nicht mehr nachweisbar.“ Was geschah da?

Schreiber und seine Forschungsgruppe gingen der Sache auf den Grund und stellten fest, dass die scheinbar fehlenden Stoffe tatsächlich noch da waren. „Sie waren allerdings so fest an das Perfluorcarbon gebunden, dass sie mit den üblichen analytischen Methoden nicht mehr zu finden waren.“

Im nächsten Schritt brachten die Wissenschaftler Perfluorcarbone mit allen möglichen Stoffgruppen zusammen. Sie erkannten dabei, dass sogar vergleichsweise große Moleküle wie zum Beispiel Peptide gebunden werden konnten. Richtig interessant wurde es aber, als die Wissenschaftler Ribonukleinsäure, kurz RNA, ins Spiel brachten. „Auch RNA-Moleküle konnten bis zu einer bestimmten Länge von Perfluorcarbonsäure fest gebunden werden.“

Das ließ Schreiber aufhorchen. RNA-Moleküle spielen im Körper eine herausragende Rolle, nicht nur bei der Herstellung von Eiweißen, sondern auch bei der Regulierung der Genaktivität von Zellen. Schon lange ist bekannt, dass die Gene in unserem Zellkern in RNA kopiert werden, die dann als Botin (Messenger- oder mRNA) aus dem Zellkern ins Zellinnere wandert. Dort wird sie von einer komplizierten Maschinerie verarbeitet, die an ihr entlang wandert und dabei die kodierte Information in Proteine umwandelt. Je nach Kodierung werden schließlich verschiedene Aminosäuren nacheinander zu einer großen Kette zusammengesetzt – ein neues Protein ist entstanden.

Relativ neu ist das Wissen, dass sich dieser Prozess auch unterbrechen lässt, wenn sich ein kurzes RNA-Stück an das einsträngige mRNA-Molekül heftet. Dafür muss das Stück zu einem kurzen Abschnitt der mRNA komplementär sein, also sozusagen einen spiegelbildlichen Code tragen.

Die kurze MicroRNA klebt dann fest und wirkt wie ein Bremsklotz. Die gesamte Maschinerie steht schlagartig still. Die Botschaft kann nicht mehr abgelesen werden und die mRNA wird von der Zelle verdaut. „Das passiert in Zellen ständig“, sagt die Medizinerin Désirée Garten, die mit Schreiber schon länger zusammenarbeitet. „Es ist ein natürlicher Mechanismus der Genregulation, mit dem die Zelle ein laufendes genetisches Programm abbricht.“

Wissenschaftler nennen diese Wechselwirkung RNA-Interferenz. Sie spielt zum Beispiel bei der Abwehr von Viruserkrankungen eine Rolle. Der Körper blockiert das Ablesen der Virengene und hindert damit Viren daran, die Zelle zu übernehmen. Aber auch normale Stoffwechselvorgänge werden damit moduliert. Die kleinen RNA-Moleküle, die eine mRNA „ausbremsen“ können, werden daher siRNA – short interfering RNA – genannt. Forscher, die diesen Mechanismus entdeckt hatten, erhielten 2006 den Nobelpreis für Medizin.

„Wir hätten mit siRNA eine ganz neue Medikamentenklasse zur Verfügung, wenn sich die RNA-Interferenz gezielt von außen einsetzen ließe“, skizziert Schreiber das Potenzial: „Durch einfache Zugabe einer siRNA, die sich an eine unerwünschte mRNA heftet, könnten Krankheitsprozesse, allen voran Krebs, auf sehr elegante Weise unterbrochen werden. siRNA könnte das Fortschreiten zahlreicher chronischer Erkrankungen verhindern.“

Schreiber und Garten sind nicht die Ers­ten, die über eine derartige Therapiemöglichkeit nachdenken. Bislang gab es allerdings ein großes Problem: Kleine RNA-Stücke sind instabil. Sie lassen sich weder in Tablettenform verabreichen noch ins Blut geben. Sie müssen stabilisiert oder verpackt werden. Oder beides. Die Stabilisierung durch chemische Modifikationen beeinflusst jedoch die Wirksamkeit.

Verpackungsversuche – die RNA wird dabei in winzige Tröpfchen eingeschlossen – scheiterten bislang daran, dass diese Tröpfchen die dichte Auskleidung der Blutgefäße mit En­dothelzellen nicht gut genug durchdringen. Der größte Teil landet in der Leber, dem Entgiftungsorgan des Körpers, und wird vernichtet.

Perfluorcarbone könnten dieses Problem lösen. Vielleicht, überlegten die Mediziner, wären sie der Schlüssel für einen effizienten Transport von therapeutischer RNA in Zellen. Als ihre ersten Versuche erfolgreich verliefen, beschlossen sie 2009, ein Unternehmen zu gründen.

2011 fanden sie mit Mey Capital Matrix und Anfang 2018 mit Global Source Ventures zwei Investoren (in der Ausgabe 04/2012 hatte private wealth über die Ambitionen des Webasto-Miteigen­tümers Gerhard Mey im Bereich der Medizintechnik berichtet). Die beiden ermöglichten ihnen mit einer Seed-Finanzierung in Höhe eines geringen Millionenbetrags die Weiterentwicklung ihrer Technologie. Schreiber leitet jetzt die Forschung der Firma, Garten ist für Forschung und Entwicklung zuständig.

Das mittlerweile auf fünf Mitarbeiter gewachsene Team hat seither eine Menge erreicht. „Wir können inzwischen zeigen, dass unsere auf Perfluorcarbon basierenden Nanocarrier durch das Endothel hindurchschlüpfen können“, informiert Schreiber. „Die RNA ist darin so gut verpackt, dass sie weder abgebaut wird noch vom Immunsystem erkannt werden kann. Haben unsere Nanocarrier einmal die Blutbahn verlassen – das dauert wenige Minuten –, binden sie sich an bestimmte Strukturen auf der Oberfläche von Zielzellen. Das löst einen Prozess aus, bei dem sie von den Zellen aufgenommen werden. Die Hülle wird verdaut und die RNA freigesetzt. Das Perfluorcarbon selbst wird als Gas gelöst und einfach ausgeatmet.“

066 Biotec Soluventis 2 siRNA Interference explanation

„Wir kommen damit überall hin – in Tumorzellen, Metastasen, entzündete oder infizierte Regionen usw.“, sagt Garten. „Und vor allem: Die Konzentration der Wirkstoffe ist in allen Organen, auch der Leber, nahezu gleich hoch.“ Damit eröffnen sich Anwendungsmöglichkeiten, von denen Forschung und Medizin bislang geträumt haben.

Es wäre eine Revolution. Bislang hatte die Pharmaforschung fast nur über Eiweiße nachgedacht, die als Strukturproteine oder Enzyme an Krankheitsprozessen beteiligt sind. Sie suchte Stoffe, die diese Moleküle blockieren oder aktivieren können. Das erwies sich allerdings oft als schwierig und manchmal als unmöglich. Vielfach zeigten sich zudem Effekte, die über das Ziel hinausschossen, Nebenwirkungen verursachten oder nicht ausreichend waren.

Mit siRNA können Mediziner jedes beliebige Protein ausschalten, dessen Bauplan bekannt ist. Wo es sich befindet, wie kompliziert seine Struktur ist, wie es arbeitet, spielt dabei überhaupt keine Rolle. „Dadurch können wir uns an Zielstrukturen wagen, die bislang völlig unzugänglich waren, nur vorübergehend existieren oder aus anderen Gründen nicht für konventionelle Medikamente infrage kamen“, sagt Schreiber. „Attraktiv sind zum Beispiel Onkogene, die am Beginn einer ganzen Kaskade von Ereignissen stehen, an deren Ende eine Zelle zur Krebszelle mutiert.“

Dass die Idee funktioniert, haben die Forscher inzwischen an krebskranken Tieren nachgewiesen. „Wir haben bei zwei weiteren Kandidaten therapeutische Effektivität bei Darmkrebs und bei Bauchspeicheldrüsenkrebs gefunden und konnten zudem zeigen, dass unsere Nanocarrier mitsamt der RNA gut vertragen werden“, erläutert Schreiber.

Die Tests zeigten, dass den Tieren sieben Tage lang bis zu ein Gramm Nanocarrier pro Kilogramm Körpergewicht verabreicht werden konnte, ohne dass es zu gravierenden Nebenwirkungen kam. „Das liegt um ein Vielfaches über der Dosis, die wir später kranken Menschen verabreichen wollen. Aber es zeigt, dass unsere Nanocarrier ungefährlich sind. Sie bestehen im Übrigen ausnahmslos aus Komponenten, die in der Medizin schon lange verwendet werden.“

Beim Bauchspeicheldrüsenkrebs war die Kombination aus siRNA und Nanocarrier von Soluventis sogar wesentlich effektiver als die Standardtherapie mit dem Chemotherapeutikum Gemcitabin. „80 Prozent der Tiere waren nach der Behandlung frei von Metastasen“, sagt Garten. „Das konnte bisher noch niemand erreichen.“

Die Wissenschaft hat mittlerweile mindestens 9000 neue Zielstrukturen ausgemacht, die sich für eine Therapie mit siRNA eignen. Bei so vielen Möglichkeiten ist es nun für Soluventis wichtig, die passende Geschäftsstrategie zu finden und sich nicht zu verzetteln.

066 Biotec Soluventis 3 Nanocarrier scheme

„Wir verfolgen ein duales Geschäftsmodell“, erklärt Edvin Munk, der vor Kurzem die Geschäftsführung von Soluventis Nanotherapeutics übernommen hat. „Einerseits möchten wir das Potenzial der Technologie mit eigenen, vielversprechenden Zielstrukturen in bestimmten onkologischen Indikationen selber nutzen. Andererseits wollen wir mit Pharma-Unternehmen Lizenzvereinbarungen abschließen. Sie können ihre Wirkstoffkandidaten in unsere Nanocarrier verpacken, um diese dann erfolgreich zu verabreichen.“

Das Unternehmen hat zunächst mit drei eigenen Produktkandidaten begonnen. Sie richten sich gegen Ziele, die bislang nicht erreicht werden konnten. „Dabei geht es bei einem ersten Projekt um eine sehr seltene Krebserkrankung: das Ewing-Sarkom, eine Form von Knochenkrebs, die vor allem Kinder betrifft und durch eine spezifische genetische Veränderung ausgelöst ist. Die wollen wir gezielt ausschalten. Können wir hier die Wirksamkeit beim Menschen zeigen, lässt sich der therapeutische Ansatz auch auf Patienten mit Prostatakrebs übertragen. Denn hier liegt bei etwa der Hälfte der Betroffenen ein Mechanismus zugrunde, der ebenfalls ideal für die siRNA-Therapie geeignet ist.“

Am Ewing-Sarkom erkranken in den USA pro Jahr ungefähr 600 bis 800 Menschen, zumeist Kinder. In Deutschland liegt die Zahl der Betroffenen zwischen 200 und 300. Ist die Studie erfolgreich, kann das Unternehmen in den USA auf einen sogenannten Pediatric Voucher hoffen, einen Gutschein, der von der FDA ausgegeben wird, wenn ein innovatives Medikament zur Behandlung von Kinderkrankheiten entwickelt wurde. Er erlaubt günstigere Konditionen für klinische Studien, die ganz andere Indikationen und Medikamente betreffen, kann aber auch verkauft werden. „So ein Gutschein wird zu Preisen zwischen 50 und 350 Millionen Dollar gehandelt“, sagt Schreiber. „Er würde uns klinische Studien für ein weiteres Produkt erleichtern oder das Unternehmen weiter finanzieren.“

Soluventis hat bereits einige weitere, vielversprechende Zielstrukturen für die klinische Entwicklung von Produkten identifiziert. Da das Unternehmen jedoch nicht alle Targets selbst nutzen kann, will es einige dieser Entdeckungen ebenfalls kommerzialisieren.

Derzeit sucht das Unternehmen Privatinvestoren, die ingesamt 15 Millionen Euro beitragen, um die Technologie zu entwickeln und eine erste klinische Studie an Patienten mit dem Ewing-Sarkom zu beginnen. „Falls die erfolgreich ist“, erläutert Schreiber, „hätten wir zum ers­ten Mal gezeigt, dass siRNA als neue Medikamentenklasse tatsächlich taugt.“

Dann könnte das schlummernde Potenzial einer Technologie erschlossen werden, die zahlreiche Krankheiten behandelbar macht, bei denen der Medizin derzeit die Hände gebunden sind. ®

Autor: Dr. Ludger Weß

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