Die es möglich macht.
Nachfolge. Der Lichtdesigner Ingo Maurer aus München hat der Nachwelt nicht nur seine Kunst, sondern auch sein Business hinterlassen. So ungeordnet, wie es von diesem Typus Künstler vielleicht zu erwarten war. Tochter Claude Maurer braucht eine neue Führungsstrategie, damit das Unternehmen weiterlebt.
Die Leuchte sieht aus, als habe eine Explosion stattgefunden. Als hätte jemand auf dem Höhepunkt eines Polterabends „Freeze“ gerufen. Wer kommt auf die Idee, eine solche Porzellanskulptur als Lichtquelle für den Wohnraum zu entwickeln? Ein ernsthaft verrückter Kreativer. Wer schafft es dann noch, dieses Produkt zu einem hohen Preis über Jahre immer wieder zu verkaufen? Ein etwas chaotischer, aber genialer Unternehmer. Ingo Maurer (1932–2019) war beides. „Porca Miseria!“, soll ein perplexer Messebesucher in Mailand einst im Angesicht dieser Leuchte ausgerufen haben – ein Kraftausdruck, so viel wie „elende Schweinerei“. Maurer fand, dass der Name passt.
Claude Maurer, 54, berührt die Scherben, die mit Metallstreben verklebt sind und noch in den Leuchtenkörper gesteckt werden müssen. Sie steht in einer ehemaligen Fertigungshalle des Flugzeugbauers Dornier in München-Neuaubing – heute ein Business Park. Hier hat die Firma Ingo Maurer seit 15 Jahren einige verstreute Flächen gemietet und fertigt mit ein paar Dutzend Leuten 150 verschiedene Leuchten – in dieser Halle ausschließlich die „Porca Miseria!“.
Claude Maurer ist Ingo Maurers Tochter. Sie entstammt seiner ersten Ehe mit Dorothea Becker, auch eine Gestalterin. Tochter Claude wirkt weder genial-verrückt, noch bezeichnet sie sich als besonders kreativ. Keine Lichtdesignerin, sondern Japanologin und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Allerdings seit 2005 in der Firma, seit 2011 Mitglied der Geschäftsführung. Heute gemeinsam mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Sarah Erbin der Firma und der Lizenzen des berühmten Vaters, der im vergangenen Oktober im Krankenhaus starb. Und: entschlossen, dieses Erbe zu schützen und zu erhalten.
Doch wie lässt sich ein flirrender Kosmos der Kreativität bewahren, wenn die Sonne darin erloschen ist? Was, wenn der abtretende Unternehmer sein Lebenswerk weitgehend ungeordnet hinterlässt? Wie viel Führung braucht es in solch einem Moment und wie viel Demut vor der Truppe an Kreativen, die die Bälle in der Luft halten?
Denn was Ingo Maurer, Sohn eines Fischers vom Bodensee, gelernter Schriftsetzer und Autodidakt, seit 1965 aufgebaut hat, ist nicht nur ein künstlerischer Nachlass, sondern: Kreativgemeinschaft, Marke und Manufaktur. Damals in den Sechzigern genügte eine einsame trunkene Eingebung in einem venezianischen Hotelzimmer, um eine „Bulb“ zu schaffen, eine überdimensionierte Glühbirne als Leuchte, die zum Verkaufsschlager wurde. Später, in den Achtzigern, retteten Niedervoltlampen, an gespannte Drähte gehängt, schon eine richtige kleine Firma aus der Krise. Heute räumt die Pinakothek der Moderne in München ganze Säle frei, um den Lichtkünstler Ingo Maurer zu präsentieren (die Ausstellung läuft noch bis Mitte Oktober 2020). Und die Bewohner der Stadt freuen sich über seine Inszenierung der U-Bahn-Station an der Münchner Freiheit. Oder promenieren im Residenztheater unter einer flirrenden Silberwolke aus seiner Hand. Doch knapp 50 Mitarbeiter, viele Kunden und Lieferanten würden sich vor allem freuen, wenn das Unternehmen am Leben bliebe. „Nachfolge war ein schwieriges Thema für meinen Vater“, sagt Claude Maurer. „Er hat sehr lange darüber nachgedacht, schon als er 60 wurde. Aber er hat so was nicht gern geplant.“ Als seine zweite Frau Jenny Lau, 13 Jahre jünger als er, 2014 an Krebs starb, war keine Zeit zur eigenen Nachfolgeplanung, weil Laus Aufgaben – „das Kaufmännische“ – neu zu verteilen waren. Dann ließen die Kräfte beim Gründer selbst nach: „2017/18 begann er, schwächer zu werden“, sagt die Tochter. „Projekte verzögerten sich, Entscheidungen wurden nicht mehr so schnell getroffen.“
Schon 2013 hatte der Vater Besuch von Burkhard Bensmann gehabt, heute 61. Der Unternehmensberater führte Interviews für sein Buch „Wie sich kreative Entrepreneure erfolgreich organisieren“. Begeistert beschreibt Bensmann darin den charismatischen Designer und den Ort des Gesprächs, den Show-room der Maurers in der Kaiserstraße 47 im besten München-Schwabing. Und konstatiert die Selbststeuerungsmechanismen des Meisters: „Für Ingo Maurer ist das Empfinden von Unsicherheit ein wesentlicher Ausgangspunkt für seine gestalterische Arbeit, er definiert für sich, dass Sicherheit ,etwas Tödliches‘ sei, betont, dass er das Risiko liebe.“
Der Berufs-Träumer mit Zweitwohnsitz New York, der aber eigentlich für die Wüste schwärmte, mit ihrer „wunderbar lauten Stille“, das war kein Mensch für To-do-Listen oder E-Mails. Solches Gift hätte womöglich den Ideenfluss unterbrochen, die Bedingungen für Kreativität zerstört, die angestrebte Dopamin-Ausschüttung verhindert, vermutet Bensmann.
Diese Verweigerung funktionierte, weil rundum Menschen waren, die ihn kannten, verstanden und ergänzten. Menschen wie Claude, seine Tochter. Sie hatte mit 40 das Dolmetschen aufgegeben, war von Köln nach München gezogen, hatte mitarbeiten wollen, wissen wollen, „was hier ist“. Sie sollte nach Ingo Maurers Willen in der Nachfolge eine leitende Rolle übernehmen, aber in einer Gruppe, denn er sehe die Notwendigkeit, das vollständige Team zu beteiligen. Doch wenn Bensmann damals richtig gehört hat, dann war der Fortbestand seines Lebenswerks für Ingo Maurer im Grunde gar nicht so wichtig: „Ich bin fasziniert von der Vergänglichkeit. Wenn ich Glück habe, gibt es nachher ein paar Wellen, dass man sagt: Das hat der gemacht.“
Claude Maurer scheint sich mit den Wellen nicht zufriedenzugeben. Auch die Schwester interessiert sich nach ihren Worten sehr für die Firma, genauso wie Schwager Sebastian Untermöhlen, der seit Langem mitarbeitet. Doch selbst wenn die Geschwister einig sind: Die Halbe-halbe-Erbengemeinschaft ändert Grundsätzliches, zum Beispiel im Verhältnis zum Risiko. Wo der Vater kompromisslos seine künstlerische Freiheit gelebt hat, nach der Devise „meine Idee, meine Firma, mein Kapital“, muss man sich jetzt auf Budgets einigen, wenn etwa Künstler zum Kreieren eingeladen werden.
„Wir sind aktuell dabei, das Unternehmen neu zu strukturieren, auch mit Beratern“, sagt Claude Maurer, derzeit alleinige Geschäftsführerin. Auch über einen Beirat sei schon gesprochen worden. Und über die Notwendigkeit eines weiteren Geschäftsführers. „Da strecken wir gerade die Fühler aus, nicht nur weil wir Manpower brauchen, sondern weil wir – trotz eines hervorragenden Teams aus Designern und Projektmanagern – eine neue Perspektive als spannenden Impuls und zusätzliche Energie betrachten.“
Lange sei sie „Mädchen für alles gewesen“, sagt Maurer ganz uneitel. Ihr Job waren die Mühen der Ebene: die elenden Details, Qualitätssicherung, Mitarbeiterführung, Kundenzufriedenheit. Sie fühlte sich als Herrin über den Prozess.
Angesichts der Leuchtmittelverordnung der EU im Jahr 2009 hatte der Vater gewütet und gefordert, die Glühbirne stattdessen zum Weltkulturerbe zu erklären. Im Unternehmen umgesetzt hat die Verordnung offenbar – Claude. Heute sagt sie: „Die Umstellung auf LED ist abgeschlossen.“ Statt in Wattzahlen ist jetzt zu denken in Kelvin, Lumen, Lux und Farbwiedergabeindex.
Auch dass Leuchten nicht mehr über dicke, gedruckte Kataloge verkauft werden, sondern eine Präsenz auf Instagram und Pinterest immer wichtiger wird, habe sie dem Vater versucht zu erklären. Dass die Innenarchitekten persönliche Ansprache erwarten, Networking, die Berücksichtigung ihrer spezifischen Bedürfnisse. Dass die Wettbewerbssituation heute eine andere sei als damals in den Achtzigern, als dem Vater seine witzigen Produktideen aus den Händen gerissen wurden und seine Haltung „Die Leute kommen sowieso zu mir“ vielleicht noch eine Berechtigung hatte.
Claude Maurer erklärt die Lage: „Wir müssen die Architekten unterstützen, die Produkte zu verstehen, damit sie auch ihre Kunden begeistern können. Dafür dürfen wir die Leuchten nicht zu stilisiert präsentieren, sondern in echten und lebendigen Umgebungen. Wir müssen Geschichten dazu liefern.“
Dem Vater sei alles fremd gewesen, was mit Computer und Bildschirm zu tun hatte. Auch Delegieren sei nicht seine Stärke gewesen: „Er wollte in allen Projekten mitmischen.“ Am einschneidendsten aber sei eine Entscheidung gewesen, die um die 2000er-Jahre gefallen sei: „Mein Vater und seine zweite Frau hatten kein Interesse daran, dass die Firma weiter wächst.“ Ein Fehler? „Eine Entscheidung“, sagt Claude ruhig.
In den letzten Jahren sei das Geschäft rückläufig gewesen. Auf rund acht Millionen Euro beziffert die Erbin den aktuellen Jahresumsatz, mit Deutschland als wichtigstem Markt, gefolgt vom europäischen Ausland und den USA. Zur Rendite will sie nichts sagen. Die Firma habe keine eigenen Immobilien, aber auch keine Bankverbindlichkeiten. Der letzte veröffentlichte Jahresabschluss stammt aus dem Frühjahr 2018: Für das Vorjahr war dort ein Bilanzgewinn von 1,7 Millionen Euro verzeichnet.
Dritter unterzeichnender Geschäftsführer war da noch Marc-Oliver Schneider gewesen, ein Ingenieur, der 2018 von Küppersbusch Großküchentechnik herüberkam, im August 2019 aber wieder ausgeschieden ist. „Wir brauchten jemanden, der sich um den Vertrieb kümmert“, sagt Claude Maurer auf Anfrage dazu. „Die starke Lehre für mich daraus ist, dass die Größe der Firma, in der jemand wirkt, entscheidend ist, und dass viele Aspekte der jeweiligen Persönlichkeit passen müssen.“ Schneider selbst will sich auf Anfrage nicht äußern.
So bewegt sich die neue Chefin in diesen improvisiert wirkenden Werkstätten und Hochregallagern noch allein und ohne festen Plan. „Erst mal konsolidieren“, heißt die Devise. Weniger Varianten fertigen, den Web-Shop weiter stärken, der zurzeit erst gut drei Prozent vom Umsatz ausmacht. Und mittelfristig wieder wachsen. Auch per Lizenzvergabe, warum nicht? Per Industrie- oder Finanzbeteiligung, das sei ebenfalls denkbar, genauso wie theoretisch eine Kapitalbeteiligung der Mitarbeiter.
Was das Erfolgsgeheimnis der mehr als 50 Jahre alten Firma angeht, formuliert die Tochter selbstbewusst: Nicht nur gute Gestaltung, sondern auch ganz viel Emotion und vor allem Humor – schräger, provozierender Humor –, gepaart mit starken handwerklichen Fähigkeiten. Eine Stärke sei auch der Projektbereich, also das Planungsbüro, das von der Beleuchtung Münchner U-Bahn-Stationen bis zur Ausstattung eines ganzen Luxushotels in Georgien schon vieles vorzuweisen habe. Da sei dann nicht nur die „Skulptur“, also die Lichtquelle selbst, das Thema, sondern auch die Oberflächen, mit denen dieses Licht korrespondiert, also Wände, Böden, Möbel, Stoffe. Vieles davon lasse sich auch ohne den gestalterischen Input des Vaters weiterführen.
„Wir werden die Marke Ingo Maurer schützen, sie nicht verwässern, nichts machen, das nicht passt, aber wir werden sie weiterentwickeln“, sagt Claude. Sie glaubt, die Richtige dafür zu sein, denn: „Ich war immer mit dabei.“
Die DNA des väterlichen Werks, die Aspekte, die sonst keiner kennt, der Überblick, die Erfahrungen sind bei ihr versammelt. Nach dem Tod des Vaters habe sie viel Bestätigung von außen erfahren, nicht nur die Gesellschafter-Option auszu-üben, sondern auf absehbare Zeit die Geschäfte zu führen. Doch sie will authentisch bleiben, mögen, was sie tut, sich selbst Fragen stellen dürfen und auch die Mitarbeiter einbeziehen: Wie möchtet ihr arbeiten?
In der Führung hat Claude Maurer einen anderen Stil als ihr Vater. „Er hat gern provoziert und genoss es, immer eine Bühne zu haben. Ich brauche das nicht und bin sachlicher. Aber im richtigen Moment auch entschieden.“ Außerdem scheint das Tempo ein anderes zu sein. „Er ist uns immer in großen Schritten vorausgegangen“, das hatten die Mitarbeiter in die Traueranzeige für ihren großen Patriarchen geschrieben. Das sei nicht nur metaphorisch gemeint gewesen, sondern ganz wörtlich, weil Ingo Maurer stets große, schnelle Schritte gemacht habe, erklärt die Tochter. Sie selbst bewegt sich langsam, spricht ruhig, zieht sich aus Räumen zurück, wenn andere dort zu tun haben, beansprucht keine Sonderstellung.
Claude Maurer experimentiert gerade mit Gruppenentscheidungen, mit Selbststeuerungsprozessen, Eigenverantwortung und Kooperation. Die Vorbereitung des diesjährigen Mailänder „Salone del Mobile“, der wegen der Corona-Krise zunächst auf Juni verschoben wurde und inzwischen ganz abgesagt ist, sei ein Testlauf gewesen. Die Mitarbeiter hätten verschiedene Szenarien ausgearbeitet, Gruppen definiert und sich dann frei entschieden, in welcher von ihnen sie mitarbeiten wollten. „Das hat nicht nur sehr überraschende Ideen, sondern auch ein gutes Gefühl für alle ergeben“, sagt Maurer.
Schon zuvor habe es in der Ingo Maurer GmbH keine Visitenkarten mit dem Aufdruck der Funktion im Unternehmen gegeben, nicht einmal bei den acht hauseigenen Designern, zu denen jetzt noch weitere Externe stoßen sollen. „Wir arbeiten hier frei schwebend“, sagt Claude. „Einige kommen damit gut zurecht, andere wünschen sich mehr Struktur.“
Berater Bensmann, der hier kein Mandat, sondern nur eine private Meinung hat, findet Claudes Vorgehen schlüssig. „Wer wie sie einem Überflieger folgt, kann eine Firma nur von hinten führen, als Gesamtkunstwerk, in der Rolle der Wertschätzerin und derjenigen, die es möglich macht.“ ®
Autorin: Cornelia Knust