"Ich mache mir schon Sorgen."

(Geschätzte Lesezeit: 2 - 4 Minuten)

A letter from … Wolfgang Bosbach. Der streitbare Bundestagsabgeordnete macht sich Gedanken über Politik, Europa und die soziale Leistungsfähigkeit unseres Landes.

Ich scheide nach der Wahl aus dem Bundestag aus und werde deshalb häufig gefragt, was denn – nach vorn gedacht – jene drei Punkte sind, die mich an dieser Weggabelung meines Lebens am meisten beschäftigen. 

Als ich 1972 in die Politik gegangen bin, trug jedes zweite Auto einen Aufkleber für die eine oder andere Partei. Heute geht die Bereitschaft, sich sichtbar in einer Partei politisch zu engagieren, immer weiter zurück. Nur noch 2,8 Prozent der Bevölkerung sind dort Mitglied, Tendenz fallend. Ich verstehe die Zurückhaltung, denn Politik ist oft ein mühsames Geschäft. Sokrates hat schon vor über 2000 Jahren gesagt: Die Leute, die zu klug sind, um in die Politik zu gehen, werden für ihr Verhalten dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selbst.

Sorge macht mir auch Europa. Die Gründungsgeschichte der EU stand unter derselben Überschrift wie die Gründung der Bundesrepublik. Nie wieder. Im europäischen Einigungsprozess sollten die Völker Europas aufeinander zugehen, Grenzen abbauen. Heute ist die Gefahr groß, dass wir das dabei Erreichte verspielen und stattdessen aufeinander losgehen.

Das Hauptproblem sehe ich in der Diskrepanz zwischen europäischer Rhetorik von den Erfolgen Europas und der europäischen Realität. Wenn begründete Bedenken der Menschen nicht mehr ernst genommen werden, wenden sie sich ab und gehen zu kleineren oder radikalen Parteien.

Lassen Sie mich das an drei Beispielen erläutern. Um die Stabilität des Euro zu gewährleisten, haben wir die Kriterien von Maastricht vereinbart. Sie sind mittlerweile über 100 Mal verletzt worden. Doch alle Vertragsverletzungsverfahren sind im Sande verlaufen. Und wenn Sie mich fragen: Es wird auch künftig nie Sanktionen geben. Es ist das erklärte politische Ziel, dass keiner aus dem Euro-Verbund ausscheidet. An der Erkenntnis, dass es einigen an Wettbewerbsfähigkeit fehlt, an Wirtschaftskraft, mangelt es aber. Wer so agiert, gewinnt das Vertrauen der Menschen nicht.

Ein zweiter Punkt: Geschäftsgrundlage für die Abschaffung von EU-Grenzkontrollen im Schengen-Prozess waren sichere EU-Außengrenzen. Doch nie waren die EU-Außengrenzen durchlässiger als heute für illegale Migration und reisende Täter. Auch deshalb sind von 2007 bis 2016 die Wohnungseinbruchsdiebstähle gestiegen. Jahr für Jahr.

In der Flüchtlingsproblematik beschloss Europa mit 24 zu vier Stimmen, 160000 Flüchtlinge zur Entlastung von Italien und Griechenland umzusiedeln. Doch die überstimmten Länder denken nicht daran, ihre Quote zu erfüllen. Sie sagen: Ihr könnt beschließen, was ihr wollt. Da machen wir nicht mit. Das ist keine europäische Solidarität.

Je mehr Europa sich anstrengt, alle Dinge europaweit einheitlich zu regeln, desto eher werden die antieuropäischen Ressentiments zunehmen. Statt sich auf zentrale Politikfelder zu konzentrieren, die sich nationalstaatlich nicht mehr lösen lassen – Umweltschutz, Terrorbekämpfung –, verliert sich Europa heute häufig im Klein-Klein. Und verliert damit auch an Akzeptanz bei vielen Bürgerinnen und Bürgern.

Wir brauchen dringend eine Antwort auf die Frage: Was soll Europa am Ende des Einigungsprozesses sein? Die Vereinigten Staaten von Europa, in denen alle zentralen politischen Kompetenzen in Brüssel gebündelt werden? Bis hin zu einem europäischen Haushalt? Oder ein Europa der Vaterländer? Wo Nationalstaaten wichtige politische Bereiche in eigener Regie behalten? Vor dieser Frage drücken sich alle, weil es dazu in Europa ganz unterschiedliche Auffassungen gibt.

Meine größte Sorge ist aber, dass uns in Deutschland der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und sozialer Leis­tungsfähigkeit verloren geht. In allen Debatten geht es derzeit nur um neue, höhere Sozialleistungen, immer mit guter Begründung. Natürlich gibt es keine Dankeschönwahlen. Es gibt nur Bitteschönwahlen. Sie werden sehen, dass wir im Wahlkampf wieder mit einer Fülle von neuen Leistungsversprechen konfrontiert werden. Doch all das, was der Staat ausgibt, muss in dieser Gesellschaft erst erwirtschaftet werden.

Wir sollten deshalb Debatten darüber führen, wie wir den Standort in einer sich rasant verändernden Welt stärker und wettbewerbsfähiger machen können. Es liegt an Ihnen, dies einzufordern – als Wähler. Oder noch besser: als neues Mitglied in einer unserer Parteien.