Realitäts-Check: Seismograf besteht Lackmustest.

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Kapitalmarkt Seismograf 1Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

seit mehr als zwei Jahren informieren wir Sie regelmäßig über die Entwicklungen des Kapitalmarktseismografen. Wir möchten Ihnen damit helfen, Chancen und Risiken am Aktienmarkt besser einzuschätzen. Gleichzeitig leiten wir daraus kurzfristige Veränderungen der Aktienquote im private-wealth-Börsenindikator ab. 

Im Jahr 2019 hatte dies hervorragend funktioniert (siehe Neues aus der Redaktion vom 17.01.2020: Seismograf überzeugt im Jahr 2019). Das Jahr 2020 war nun der ultimative Lackmustest für das Modell. Dramatischer Absturz, V-förmige Erholung, dann eine Hausse, in der die Kurse eine Mauer aus Angst emporkletterten – Anleger hätten in den vergangenen zwölf Monaten sehr viel falsch machen können. Hat der Investment-Ansatz, der auf dem Kapitalmarktseismografen basiert, auch 2020 echten Mehrwert gestiftet? Ein Rückblick.

Die Geschichte des Kapitalmarktseismografen begann vor mehr als zehn Jahren an der TU München. Professor Rudi Zagst hatte gemeinsam mit einem Gremium aus Wissenschaftlern und anerkannten Praktikern unter denen sich auch Dr. Oliver Schlick, der ehemalige Geschäftsführer und Chief Investment Officer der Bayerninvest befand, ein Modell entwickelt, um Krisenwahrscheinlichkeiten prognostizieren zu können –  den Kapitalmarktseismografen. Dabei werden drei Marktzustände unterschieden: Signalisiert der Seismograf "grün", bedeutet dies, dass ein ruhiger Markt mit positivem Trend erwartet wird. Anleger können beruhigt investieren. "Gelb" weist auf einen turbulenten Markt mit positiver Erwartung hin. Und "Rot" signalisiert einen turbulenten Markt mit negativer Erwartung. Der Ratschlag lautet dann: Nicht Investieren.

Später erweiterte Schlick zusammen mit Zagst das Modell zu einem Investmentansatz, der klare Empfehlungen bezüglich der Aktiengewichtung im jeweiligen Marktumfeld gibt. Seit 2018 publiziert private wealth diese Ergebnisse regelmäßig. Die Redaktion verknüpft damit vier Erwartungen: Erstens soll der Seismograf rechtzeitig vor Turbulenzen warnen und so die Verluste in einem Abwärtstrend begrenzen. Zweitens soll der Ansatz die defensive Ausrichtung ohne große Verzögerungen wieder korrigieren, wenn sich die Gewitterwolken verzogen haben, damit Anleger die Aufwärtsphasen an den Börsen mitmachen können. Drittens soll der häufig gemachte Fehler vermieden werden, in Seitwärtsphasen mit starken Schwankungen zu oft zu reagieren. Denn zurecht gilt, hin und her macht Taschen leer. Und viertens sollte das Anlageergebnis per Saldo langfristig besser ausfallen als bei einer reinen Buy-and-hold-Strategie.

Konnte der Ansatz diese Erwartungen im Jahr 2020 erfüllen?

Januar 2020: Der Himmel über dem Kapitalmarkt ist wolkenlos. Die Wahrscheinlichkeit für steigende Aktienkurse liegt bei über 90 Prozent. Der Investmentansatz empfiehlt deshalb seit Wochen schon „Vollinvestition“ und hat die Jahresanfangsrallye an den Aktienmärkten mitgemacht. Der DAX notiert bei 13450 Punkten. Es scheint ein gutes Anlagejahr zu werden.

Februar 2020: Das deutsche Aktienbarometer markiert mit rund 13.790 Punkten ein Allzeithoch. Der Seismograf ist voll dabei. Gegen Ende des Monats macht sich jedoch Angst vor dem neuartigen Corona-Virus breit. Noch scheint dies allerdings ein auf China begrenztes Phänomen zu sein. Die Furcht vor einem Einbruch der chinesischen Wirtschaft drückt den DAX trotzdem um rund 1000 Punkte nach unten. Beim Seismografen beginnt die Wahrscheinlichkeit für negative Turbulenzen leicht zu steigen. Das Modell bleibt aber voll investiert.

Anfang März 2020: Die Lage spitzt sich zu. Die Entwicklung der Infektionen außerhalb Chinas und die Furcht vor einer globalen Pandemie kosten den DAX in der ersten Woche des März erneut 1000 Punkte. Die Wahrscheinlichkeit für negative Turbulenzen im Modell erhöht sich weiter – allerdings nicht genug, um bei rund 11.500 Punkten im DAX eine Reduktion der Aktienquote zu rechtfertigen. Dann geht es sehr schnell. Die Wahrscheinlichkeit für negative Turbulenzen („rot“) steigt schnell und drastisch an. Ein massives Gewitter droht. Der Investmentansatz empfiehlt eine Reduzierung der Aktiengewichtung auf Null. 

Im Panikmodus fällt der Markt bis zur zweiten Märzhälfte auf knapp über 8000 Punkte. Die Geschwindigkeit des Absturzes ist atemberaubend. Der Markt verliert in nur vier Wochen in etwa das, was er in der Finanzkrise in 15 Monaten eingebüßt hatte. Angesichts dieses Tempos reagiert auch der Seismograf erst nach der ersten Abwärtswelle. Aber immerhin kann er den Verlust eines reinen Aktienportfolios im Vergleich zum Jahresanfang auf etwas über 20 Prozent limitieren. „Das könnte manchem schlaflose Nächte erspart haben. Wir dürfen nicht vergessen: Zu diesem Zeitpunkt herrschte reine Panik – und niemand wusste, wie weit die Aktienkurse noch fallen würden,“ kommentiert Oliver Schlick

Überraschend dreht der Markt dann rasch wieder. Angesichts der in Volumen und Geschwindigkeit noch nie da gewesenen Unterstützungsmaßnahmen durch die Geld- und Fiskalpolitik klettert der DAX bis Ende März schon wieder auf rund 10.000 Punkte. „Die entscheidende Frage war nun: Würde das Modell die Aktienquote wieder erhöhen?“, sagt Schlick.

April 2020: Die Erholung an den Aktienmärkten setzt sich fort. Und der Seismograf reagiert tatsächlich schnell. Schon Anfang April beginnt das Modell, die Aktienquote sukzessive zu erhöhen. Anfang Mai empfiehlt der Ansatz wieder ein Engagement von 100 Prozent. In gemischten Depots ist das eine deutliche Übergewichtung. „Das hat tatsächlich sehr gut geklappt. Im April hatte kaum einer gewagt, wieder zu investieren. Dass das Modell in diesem Moment signalisierte, das Unwetter würde sich verziehen und eine hohe Aktiengewichtung sei nun wieder zu vertreten, war ausgesprochen erfreulich“, erinnert sich Oliver Schlick.

Was waren die Gründe für die Kehrtwende? „Drei Dinge“, erklärt der Profi: „Erstens ist die Volatilität im April sehr stark zurückgegangen. Zweitens haben sich die Zinsen normalisiert. In der Krise hatte deren Struktur ein hohes Niveau an Angst im Markt signalisiert. Das veränderte sich Anfang April. Und drittens fiel der kurzfristige Zins massiv, weil die Notenbanken viel Geld in das System pumpten. Die Wahrscheinlichkeit für negative Turbulenzen ging so insgesamt drastisch zurück, das Unwetter war laut unserer Indikatoren vorbei.“

Mai 2020: Der DAX bekommt ab Mitte des Monats einen stark Schub und notiert in der ersten Juni-Woche wieder über 12500 Punkten. „Kaum einer, der im März im Panikmodus ausgestiegen war, hat von dieser Bewegung profitiert. Die meisten Investoren waren damals überzeugt, der Bärenmarkt habe – wie so oft in der Vergangenheit – zwei Stufen. Sie warteten deshalb vergeblich auf einen zweiten Rückschlag, um dann zu kaufen“, erläutert Schlick.

Juli bis September 2020: Der Markt tendiert nun per Saldo weiter aufwärts – allerdings mit zwei deutlichen Rückschlägen im Juli und September. „Die Indikatoren änderten sich in dieser Phase jedoch nur noch ganz geringfügig und ließen keine neuerlichen negativen Turbulenzen erwarten“, sagt Schlick

Oktober/November 2020: Eine zweite Infektionswelle droht, die Konjunkturindikatoren zeigen wieder nach unten. Die Aktienmärkte verlieren rund zehn Prozent. Eine Korrektur? Oder der Beginn eines neuerlichen Crash? „Viele Anleger haben während dieser Bewegung ihre Aktienbestände wieder reduziert. Interessant ist, dass in dieser Zeit bei den Indikatoren des Modells nichts Signifikantes mehr passiert war. Der LIBOR blieb konstant niedrig. Die Volatilität erhöhte sich nicht mehr deutlich. Die Datenlage verhielt sich einfach nicht so, wie zu Beginn einer Krise. Deshalb wurde unverändert die Empfehlung der Vollinvestition beibehalten“, erinnert sich Schlick.

Als am 9.11. die Nachrichten über einen funktionierenden Impfstoff bekannt werden, springen die Aktienkurse binnen Minuten um 5-10 Prozent nach oben. Wer vorher die Aktienquote reduziert hatte, muss den Kursen nun hinterherlaufen. Der Ansatz war investiert und profitierte vom Impfstoff-Schub.

Dezember 2020: Der DAX beendet das turbulente Jahr 2020 bei rund 13700 Punkten. Ein gemischtes Depot aus 50 Prozent DAX und 50 Prozent Kasse hätte – ohne jede Veränderung in der Aufteilung – im letzten Jahr knapp drei Prozent Ertrag erzielt. Wie gut hat der Seismograf in diesem Umfeld seine Zielvorgaben erfüllt?

„Das Ausstiegssignal im März kam zwar erst nach den ersten Marktrückschlägen , aber nicht zu spät“, meint Schlick, „immerhin gerieten Aktieninvestoren in einer völlig unsicheren Katastrophensituation nicht in Gefahr, Haus und Hof zu verlieren.“ Tatsächlich wurde der Verlust auf rund 20 Prozent limitiert, der folgende Absturz um noch einmal mehr als 20 Prozent vermieden. Und wäre die Finanzwelt im Frühjahr 2020 tatsächlich untergegangen –keiner konnte das damals ausschließen – wären Investoren davon nicht mehr betroffen gewesen. 

Als sich die Märket dann schnell erholten und die Gewitterwolken sich verzogen, reagierte das Modell sehr gut. In einer Welt voller Angst gab es extrem rasch wieder die Empfehlung zur Vollinvestition aus und hat dies trotz zwischenzeitlicher Turbulenzen auch beibehalten. In der volatilen Seitwärtsphase im zweiten Halbjahr erfüllte es so auch Ziel Nummer Drei perfekt. „Alles in allem bin ich damit sehr zufrieden,“ fasst Schlick zusammen.

Wie sieht es mit der Performance aus? „Hätte ein Anleger die Aktienquote gemäß den Signalen des Seismografen im Jahresverlauf zwischen Null und 100 Prozent verändert, wäre sein Gesamtertrag bei rund 3,75 Prozent gelegen. Obwohl das Modell voll investiert in den Crash vom März geschliddert ist, schnitt es also letztlich doch noch besser ab als ein gemischtes Depot aus 50 Prozent DAX und 50 Prozent Kasse, das nur knapp unter drei Prozent gebracht hätte. Das ist sehr positiv“ informiert Oliver Schlick.

Wie geht der Seismograf ins Neue Jahr?

In den ersten Januartagen zeigt der Seismograf weiter das seit Wochen gewohnte Bild. Die Wahrscheinlichkeiten für einen ruhigen, positiven Aktienmarkt (grün) und einen turbulent positiven Aktienmarkt (gelb) addieren sich auf deutlich mehr als 90 Prozent. Negative Turbulenzen sind unwahrscheinlich. „Die Empfehlung bleibt: Deutliche Übergewichtung von Aktien“, sagt Schlick. 

Fazit für Investoren:

Wir nutzen die Ergebnisse des Kapitalmarktseismografen für die kurzfristige Positionierung innerhalb des Korridors, den private-wealth-Börsenindikator vorschlägt. Da der Ifo-Konjunkturindikator positiv ist, die Bewertung an den Aktienmärkten aber mittlerweile sehr ambitioniert ausfällt, liegt dieser Korridor zwischen 60 und 90 Prozent des für Aktienanlagen vorgesehenen Kapitals. Weil der Seismograf eine Übergewichtung ratsam erscheinen lässt, ist weiterhin eine offensive Ausrichtung angezeigt. Per Saldo bleibt die Aktienquote des private-wealth-Börsenindikators deshalb bei 80 Prozent.

Ein Punkt ist dabei allerdings zu beachten: Einer noch höheren Aktienquote steht derzeit nur die Bewertung der Märkte im Wege. Die zugrundeliegende Berechnung des fairen Wertes des DAX basiert auf Datenmaterial seit dem Jahr 1954 und unterstellt unter anderem eine mittelfristige Rückkehr der Realzinsen zu den langfristigen Durchschnittswerten. Wie Sie der Berichterstattung zur Lerbacher Runde im aktuellen Magazin entnehmen können, kann diese Annahme mit Blick auf das nächste Jahrzehnt allerdings durchaus in Frage gestellt werden. Ohne diese Annahme wäre eine deutlich höhere Aktiengewichtung angezeigt. Wir werden in den kommenden beiden Wochen deshalb berechnen, was „Null-Zins forever“ für die Aktiengewichtung im Modell bedeuten würde.

Wir wünschen Ihnen ein erfolgreiches Anlagejahr 2021,

Ihr

Klaus Meitinger

Hinweis: Trotz sorgfältiger Auswahl der Quellen kann für die Richtigkeit des Inhalts keine Haftung übernommen werden. Die in private wealth gemachten Angaben dienen der Unterrichtung und sind keine Aufforderung zum Kauf oder Verkauf von Wertpapieren.